OLG Karlsruhe macht Genitalverstümmelung eines Mädchens in Äthiopien möglich: Rezension des Beschlusses 5 UF 224/08 durch den Rechtsanwalt Jan Holtmeyer.
Der Beschluss des OLG Karlsruhe vom 25.05.2009 (Az.: 5 UF 224/08): Ein Rückschlag für den effektiven Schutz von Mädchen in Deutschland vor Genitalverstümmelung
Rezension von Jan Holtmeyer, Rechtsanwalt (Leipzig)
Das OLG Karlsruhe hat in einem Beschluss vom 25.05.2009 (Az.: 5 UF 224/08, rechtskräftig; veröffentlicht in FamRZ 2009, 1599 f. und NJW 2009, 3521 ff.; Vorinstanz: AG Bad Säckingen, Az.: 6 F 202/08) entschieden, dass für einen Eingriff gemäß § 1666 BGB im Fall drohender genitaler Verstümmelung zwar bereits geringe Anzeichen einer entsprechenden Gefahren ausreichen können. Allerdings könne auf das Vorliegen konkreter Verdachtsmomente nicht gänzlich verzichtet werden und sei eine abstrakte Gefährdung zur Eingriffsrechtfertigung nicht ausreichend.
Im konkreten Fall beabsichtigten Eltern äthiopischer Herkunft, ihre 10-jährige Tochter für einen längeren Zeitraum ohne elterliche Begleitung nach Äthiopien zu einem Besuch bei den Großeltern reisen zu lassen. Die Vorinstanz hatte auf den Antrag des Jugendamtes hin den Eltern die elterliche Sorge insoweit entzogen, als es um die Veranlassung oder Genehmigung von Reisen in das Ausland ging. Die Vorinstanz begründete dies mit dem hohen Anteil weiblicher Genitalverstümmelung in Äthiopien und einer nicht auszuschließenden Wahrscheinlichkeit, das Mädchen könne während des Aufenthalts in dem Land der Genitalverstümmelung unterworfen werden.
Das OLG Karlsruhe hob auf die Beschwerde der Kindeseltern hin den Beschluss der Vorinstanz auf und begründete dies mit dem Ergebnis einer durch die Deutsche Botschaft in Äthiopien durchgeführten Anhörung der Großeltern: Diese würden dem äthiopischen Bildungsbürgertum angehören, hätten einen christlichen Hintergrund und würden sich von der Praxis der Genitalverstümmelung distanzieren. Das OLG Karlsruhe verneinte eine hinreichend konkrete Gefährdung, da eine Genitalverstümmelung in erster Linie in archaischen – hier nicht vorliegenden- Lebensverhältnissen drohe.
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe ist praktisch von erheblicher Bedeutung, da – soweit ersichtlich – erstmals ein deutsches Gericht für die Frage der Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung selbst konkrete Ermittlungen im Ausland veranlasst hat.
Allerdings bleibt die Entscheidung weit hinter dem durch § 1666 BGB intendierten Schutz zurück. Dieser ist grundrechtlich durch Art. 2 Abs. 2 GG garantiert und höchstrichterlich auch für die Frage drohender Genitalverstümmelung dahingehend konkretisiert, dass bei dieser grausamen, folgenschweren und durch nichts zu rechtfertigenden Misshandlung bereits eine hohe Wahrscheinlichkeit der Verstümmelung für die Anordnung von Schutzmaßnahmen gemäß § 1666 BGB ausreicht (BGH, Beschl. vom 15.12.2004, Az.: XII ZB 166/03; NJW 2005, 672 [673]). Verfahrensrechtlich folgt daraus im Rahmen des § 26 FamFG (vormals § 12 FGG) für die seitens des Gerichts vorzunehmenden „erforderlichen Ermittlungen“ zwecks Gewährung effektiven Grundrechtsschutzes (vgl. Keidel, FamFG, 16. Auflage 2009, § 26, Randnummer 16) eine besonders gründliche Prüfung der Gefährdungslage.
Eine eingriffsrechtfertigende Gefährdungslage hat das OLG nur bei „archaischen Lebensverhältnissen“ gesehen und sich dafür auf eine Studie von UNICEF aus 2005 berufen, wonach Frauen mit höherem Bildungsgrad und städtischer Umgebung eher bereit seien, die Praxis der Genitalverstümmelung aufzugeben. Das OLG hat dabei übersehen, dass laut einer jüngeren – allgemein zugänglichen (http://www.ipu.org/wmn-e/FGM-ethiopia.pdf) – Veröffentlichung des „House auf Federation“ Äthiopiens (Länderkammer des Parlaments) aus 2006 weibliche Genitalverstümmelung dort in städtischen Regionen keinesfalls seltener als in ländlichen Regionen vorkommt, keine signifikanten Unterschiede in der Häufigkeit bezüglich Bildungsschicht bestehen und selbst innerhalb der Bevölkerung christlicher Religionszugehörigkeit an fast 70% der Mädchen Genitalverstümmelungen verübt werden. Die vom OLG verallgemeinernd vorgenommene Beschränkung der Gefährdungslage auf „archaische Lebensverhältnisse“ ist daher nicht haltbar.
Vor diesem Hintergrund können auch die weiteren Erwägungen, mit denen das OLG eine hinreichende Gefährdung verneint, kein entscheidendes Gewicht haben. Das Gericht stellte in diesem Zusammenhang darauf ab, dass sich die in Äthiopien angehörten Familienangehörigen von der Praxis der Genitalverstümmelung als mit ihrem Lebensstil unvereinbar distanziert hätten. Das OLG hat offenbar nicht in Betracht gezogen, dass diese Aussagen möglicherweise gar nicht der tatsächlichen Haltung entsprechen, jedoch in jedem Fall zu erwarten sind. Gerade wenn man von einem hohen Bildungsstand der im Gefährdungsland lebenden Angehörigen ausgeht, werden diese die rhetorische Fähigkeit besitzen, eine Sympathie für die Verstümmelungspraxis gegenüber denjenigen Stellen, die diese ggf. verhindern könnten (hier: den deutschen Gerichten, die die Ausreise in das Gefährdungsland) glaubhaft zu leugnen. Da zudem Genitalverstümmelung in Äthiopien ein offizielles Strafdelikt darstellt, ist umso weniger ein ehrliches Bekenntnis bezüglich einer eventuellen Praktizierung innerhalb der Familie zu erwarten. Allein aus der Eloquenz, mit der gegen die Genitalverstümmelung Stellung bezogen wird, wird man angesichts der Verbreitung der Genitalverstümmelung auch in den gebildeten Schichten Äthiopiens nichts für die Glaubwürdigkeit dieser Personen herleiten können. Der Bundesgerichtshof hat klargestellt, dass sogar die verbale Distanzierung von Genitalverstümmelung seitens solcher Verwandter, die eine Genitalverstümmelung selbst erlitten haben, nicht den Beweis dafür liefert, dass diese willens und in Lage sind, diese an den eigenen Kindern zu verhindern (BGH, Beschluss vom 15.12.2004, XII ZB 166/03, NJW 2005, 672 [674]; ähnlich OLG Dresden, Beschluss vom 15.07.2003, 20 UF 401/03, BeckRS 2003, Dok.-Nr. 30323221). Selbst wenn tatsächlich die Bereitschaft einzelner Verwandter besteht, das Mädchen vor Genitalverstümmelung zu beschützen, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese die Tat verhindern können. Angesichts der Größe der dem betroffenen Mädchen für seine körperliche Integrität drohenden Gefahr und dem nach der Gefahrverwirklichung lebenslang wirkenden gravierenden körperlichen und psychischen Schaden müssen daher derartige Einlassungen grundsätzlich unbeachtlich bleiben.
Dass die hier vertretene Ansicht einen Eingriff in das Elternrecht gemäß Art. 6 Abs. 2 GG darstellt, liegt auf der Hand. Dieser Eingriff ist aber gerechtfertigt durch das kollidierende Grundrecht des bedrohten Mädchens auf körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz1 GG. Das staatliche „Wächteramt“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG muss hier dafür sorgen, dass dem Recht des Kindes – über die Realisierung der grundrechtlichen Schutzpflicht – vorrangige Geltung verschafft wird.
Der Eingriff in das Elternrecht ist auch verhältnismäßig. Die Verhältnismäßigkeit wird gewahrt, indem an den Gefahrbegriff des § 1666 BGB die bereits von der Rechtsprechung entwickelten Anforderungen gestellt werden. Es ist bedauerlich, dass das OLG Karlsruhe in diesem Zusammenhang sich nicht mit der von der Vorinstanz getroffenen Erwägung auseinandergesetzt hat, wonach eine Gefahr zumindest zweifelhaft gewesen wäre, wenn die Eltern bereit gewesen wären, die vom Jugendamt geforderte Erklärung über die Sicherstellung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes und die regelmäßige Durchführung ärztlicher Untersuchung zu unterschreiben, was sie jedoch abgelehnt hatten. Dies gilt umso mehr, als bereits der Bundesgerichtshof eine regelmäßige Vorstellung eines gefährdeten Kindes bei einem Kinderarzt als ggf. erforderliche Maßnahme in Betracht gezogen hat (BGH, Beschluss vom 15.12.2004, XII ZB 166/03, NJW 2005, 672 [674]). Daher wird der Beschluss des OLG Karlsruhe dem rechtlichen gebotenen Schutz des von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchens nicht gerecht.
Gegen diese Argumentation kann nicht, wie das OLG offenbar meint, eingewandt werden, dass damit Eltern aus einem Hochrisikoland wie Äthiopien entgegen dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG diskriminiert werden. Als einschlägig kommt hier allenfalls das spezielle Verbot der Diskriminierung wegen „Heimat“ in Betracht (verfassungsrechtlich ungenau ist daher die vom OLG für seine Ansicht in Bezug genommene Stellungnahme der Bundesministerien BMFSFJ, BMJ und BMG aus Januar 2008, S. 4, wo von Diskriminierung wegen „Herkunft“ die Rede ist. Herkunft im Sinne von Art. 3 Abs. 3 meint die „ständisch-soziale Abstammung und Verwurzelung“ (BVerfGE 48, 281 [287 f.]. Mit einer Differenzierung nach diesem Kriterium hat die hier vertretene Ansicht nichts zu tun). Heimat im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG ist die örtliche Herkunft nach Geburt oder Ansässigkeit im Sinne der emotionalen Bindung zu einem geographisch begrenzten, einzelnen mitprägenden Raum (vgl. BVerfGE 102, 41 [53]). Eine – unzulässige - Diskriminierung nach Heimat läge aber nur dann vor, wenn bei der Einschätzung der Gefährdungslage die Differenzierung nach der örtlichen Herkunft der Eltern schlechthin verboten wäre. Dies ist indessen nicht der Fall. Wie aus den Entscheidungen der ober- und höchstrichterlichen Rechtsprechung hervorgeht, legen die Gerichte die Verdachts- und Eingriffsschwelle hinsichtlich des Elternrechts wie selbstverständlich herab, wenn der Inhaber des Aufenthaltsbestimmungsrechts etc. eine bestimmte Herkunft aufweist, nämlich aus bestimmten Hochrisikoländern (BGH, Beschluss vom 15.12.2004, XII ZB 166/03, NJW 2005, 672 ff.; OLG Dresden, Beschluss vom 15.07.2003, 20 UF 401/03, BeckRS 2003, Dok.-Nr. 30323221; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 05.05.2008, 16 UF 3/08, NJW-RR 2008, S. 1174 ff.). Nichts anderes tut übrigens im Ausgangspunkt das OLG Karlsruhe im Beschluss vom 25.05.2009. Zwar will es einerseits die Herkunft der Eltern aus einem Hochrisikoland als Indiz für die Gefahr der Genitalverstümmelung allein (Anm.: Unterstreichung durch den Unterzeichner) nicht ausreichen lassen, andererseits hat es sich doch veranlasst gesehen, aufgrund dieser Herkunft weitere Indizien (insbesondere die konkreten Verhältnisse vor Ort) zu prüfen, wenn auch mit unzulänglichem Ergebnis.
Die aus der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ersichtliche Herabsenkung der Eingriffsschwelle bei Herkunft aus bestimmten Hochrisikoländern ist vor einem verfassungsrechtlichen Verständnis des Diskriminierungsverbots gemäß Art 3 Abs. 3 GG gerechtfertigt, wonach die staatliche Maßnahme lediglich dann verboten ist, wenn sich ihr Zweck, hier der Schutz des Mädchens, sich auch auf eine Weise erfüllen lässt, die nicht zu einer Anknüpfung an eines der Unterscheidungskriterien des Art. 3 Abs. 3 GG führt (vgl. Maunz/ Dürig/ Herzog/ Scholz, Kommentar zum GG, 53. Auflage 2009, Art. 3 Rn. 158). Wie der Schutz der bedrohten Mädchen auf andere Weise als dadurch zu bewerkstelligen ist, als dass bei Herkunft des sorgeberechtigten Elternteils aus einem Hochrisikoland die Gefahrenlage besonders gründlich zu prüfen ist, ist nicht ersichtlich. Damit fällt auch der vom OLG Karlsruhe erhobene Vorwurf des „Generalverdachts“ gegen Elternteile bestimmter Herkunft in sich zusammen.
Der Beschluss des OLG Karlsruhe leidet ferner daran, dass das Gericht es unterlassen hat, einen weiteren, außerhalb von Addis Abeba lebenden Teil der Familie, in seine Ermittlungen einzubeziehen, den das Kind ebenfalls hätte besuchen sollen und aus diesem Grund die Gefährdungslage nicht umfassend geprüft hat. Ausweislich Ziff. I. der Beschlussgründe war dem OLG durchaus bekannt, dass die Großmutter mütterlicherseits in Äthiopien lebt. Auch aus diesem Grunde hat es sich das Gericht zu leicht gemacht.
Nach alledem ist der Beschluss des OLG Karlsruhe höchst problematisch, Er könnte sich gerade in der vom ihm selbst beabsichtigten Qualität als Leitsatzentscheidung für die Untergerichte als höchst nachteilig für die Gewährung von Schutz für von Genitalverstümmelung bedrohte Mädchen in Deutschland erweisen.
(c) Jan Holtmeyer, Rechtsanwalt, November 2009